erzählt

V

Meine Mutter war es, die mal zu mir gesagt hat, dass man sich an Tage erinnern kann, an die genauen Tage, an Daten, man weiß, wie sie sich angefühlt haben, und wenn der Tag wiederkommt, dann kommen die Gefühle mit. Man vergisst sie nicht. Man braucht keinen Kalender, man spürt, wenn sie wiederkommen, man weiß, wenn sie da sind. Jetzt weiß ich, dass sie Recht hat, was sie gemeint hat, man vergisst nicht, wie die Luft geschmeckt hat, wie das Licht aussah, das auf der Stadt lag, wie die Bäume sich in den Wind geschmiegt haben, wie alles roch, man vergisst es nicht, und wenn es wiederkommt, dann kommen die Gefühle mit. So oder so ungefähr. Auch wenn da kaum Gefühle sind, kaum Gefühle waren, die jetzt wiederkommen könnten, man wird trotzdem eingehüllt von all der Erinnerung, und sie legt sich schwer auf die Haut, auf die Lider, sie kriecht unter die Nägel, bis man sie nicht mehr abwaschen kann, man spürt sie überall, egal, wie sehr man sich schüttelt, man sich windet, man sich fragt, was das alles soll, es ist doch nicht mir passiert, nicht mal das, und trotzdem kommt alles wieder, das spüre ich jetzt, jetzt, da es noch vier Wochen hin ist, vier Wochen, bis der Tag ein Jahr her ist, an dem Lasse vor meiner Tür stand. Mit kürzeren Haaren und einem Lächeln und nichts mehr, was irgendetwas leichter gemacht hätte. Ich weiß, dass Psychologen das Traumatisierung nennen, Trauma, aber ich mag dieses Wort nicht, weil es so zynisch ist, weil da nur ein a ist, das einen vom Aufwachen trennt, und das genau dann, wenn man sich doch eigentlich nur das wünscht, Aufwachen, aus dem Traum, aus allen Träumen, vielleicht. Man wünscht sich, dass alles wie vorher ist, dass alles nie angefangen hat, dass man aufwacht, und zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen liegt nur der Traum, und der wiegt schon schwer genug, aber immerhin, trotzdem ist alles wieder wie vorher, wenn man aufwacht, und das obwohl man dachte, dass es so nie wieder sein könnte – wie vorher.

 

(Eine längere Version dieses Auszugs ist erschienen in: poetin Nr. 24, herausgegeben von Andreas Heidtmann, Frühjahr 2018.)