gegen den drill

Kursbeginn um 10.15 Uhr, Raum voll um 09.55 Uhr, Stühle, immer mehr Stühle, alle müssen irgendwie reinpassen, reinpassen, passen auch, und überhaupt – nächste Woche sind es nur noch halb so viel. Denn in dieser ersten Woche sieht man sich jedes Seminar an, das auch nur irgendwie in Frage kommt, um herauszufinden, was einen wirklich interessiert; eine Woche lang kein Pub-Crawling, nur Kurs-Crawling, ohne Gratis-T-Shirts, aber mit demselben Ehrgeiz – und das ist am Ende die Hauptsache.

In der Luft ein gleichmäßiges Summen aus dem Klackern hunderter Laptoptasten, das Kratzen von billigen Kugelschreibern auf kariertem Papier; sie benutzen hier keine Ringblöcke, sie wollen ihr Ergebnis sichtbar machen: Jede vollgeschriebene Seite wird abgerissen, abgerissen und beiseite gelegt, auf dass der obere Rand des Blocks immer dicker werde, denn das Papier immer weniger – ihnen entgeht nichts. Sie wollen nicht, dass ihnen etwas entgeht. Handouts werden herumgegeben: Seminarpläne, Bibliographien, erste Textgrundlagen, Abbildungen. 25 Handouts für fünfzig Studenten. Der Dozent sagt: zu zweit in eins reingucken. Sie nehmen sich von jeder Sorte eins. Jeder. Nach dem 25. die Sintflut. Wie auch anders – sie sehen die, die ohne Papiere bleiben, gar nicht, denn sie haben ihren Block im Blick, ihren eignen Block und ihren eigenen Stift, ihre eigene Handout-Sammlung. Ein „Könnte ich vielleicht…?“ wirkt nur verstörend, was könnte man denn wollen, schließlich werden jetzt die Referate vergeben, und das bedeutet: Melden, auf jeden Fall Melden, vielleicht auch Aufstehen, auf jeden Fall Leidend-Aussehen, und wenn es nicht aufgeht; wenn es nicht aufgeht, werden Overhead-Folien mit Erst-, Zweit- und Drittwünschen beschrieben, bezogen entweder auf Referatsthemen oder Referatspartner – kein Pub-Crawling, sondern Kurs-Crawling, nur der Ehrgeiz ist derselbe, und das ist am Ende wohl die Hauptsache.

Gegen den Drill richtet sich Alain Buffards Tanztheaterstück Tout va bien, das in Lausanne am 2. und 3. Oktober im théâtre ARSENIC zu sehen war. In diesem Stück voller Gewalt und Sexualität geht es vor allem um Macht: darum, wie sie sich ver-schieben kann, darum, was es bedeutet zu unterdrücken, unterdrückt zu werden, sich anzupassen. Während auf der Bühne Texte aus Kubricks Full Metal Jacket und Brechts Dreigroschenoper mit Gesangsstücken aus dem 18. Jahrhundert versetzt werden, fühlt der Zuschauer sich keineswegs wohl. Viel eher bereiten die krassen Bilder und Szenen, die die Tänzer/Schauspieler da auf der Bühne entstehen lassen, geradezu körperliche Schmerzen; man kann es kaum aushalten, will aufstehen, will, dass es aufhört – und gleichzeitig spürt man, dass es hier kein Entziehen gibt. Dass der Drill überall lauert, der Drill, die Anpassung, die Ignoranz, die Gewalt – auch in den kleinen Dingen. Regulierung verlangt Anpassung. Und wenn einfach kein Raum mehr ist, um anzuhalten, sich umzusehen, schräg abzubiegen...

Nach den ersten Wochen legt sich die Kursaufregung wieder und alles wird ruhiger. Wenn man erst mal ein Handout und ein Referat sicher hat. Bleibt also zu hoffen, dass hier bald auch fürs Kurs-Crawling Gratis-T-Shirts eingeführt werden. Auf deren Vorderseite wäre dann das Crawling-Prinizp-Nr.1 gedruckt: Der Weg ist das Ziel.

 

Mehr Eindrücke zu Tout va bien von Alain Buffard gibt es hier.

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